27

 

Reichen hatte fast den ganzen Tag geschlafen, aber als er erwachte, war er immer noch nervös, weil er Nahrung brauchte. Nach seiner Konfrontation mit Tegan hatte er es irgendwie aus dem Waffenraum in seine vorübergehenden Privaträume im Hauptquartier geschafft. Dort war er auf dem Bett zusammengebrochen und rasch in einen Zustand bewusstlosen Vergessens gefallen.

Jetzt, geduscht, angezogen und endlich wieder imstande, sich auf den Beinen zu halten, überfiel ihn der Jagdtrieb. Er wusste genug über Blutgier, um einzusehen, dass sich sein Hunger nur noch verschlimmern würde, wenn er ihn jetzt stillte.

Dennoch rannte er im Eiltempo durch den Korridor zu den Fahrstühlen, die ihn nach oben ins Erdgeschoss bringen würden und in die Stadt, wo vor den Türen des Ordenshauptquartiers das menschliche Leben pulsierte.

Oberirdisch konnte die Sonne noch nicht ganz untergegangen sein, aber wegen ein paar Minuten ultravioletter Strahlung machte Reichen sich keine Gedanken. Er schlich sich zu den Aufzügen und drückte die Ruftaste.

Während er wartete, ungeduldig wie eine Katze, hörte er aus der anderen Richtung schwere Stiefelschritte herankommen. Die Krieger Kade und Brock bogen um eine Ecke des Korridors, beide in voller Kampfmontur und schwer bewaffnet. Sie sahen aus, als hätten sie vor, in den Krieg zu ziehen.

„Hi“, sagte Kade. Seine silbernen Wolfsaugen waren zu Schlitzen verengt und blickten grimmig, als er Reichen mit einem leichten Heben seines kantigen Kinns begrüßte. Sein stacheliges pechschwarzes Haar wurde von einer schwarzen Strickmütze verdeckt, genauso eine, wie sie sich auch über Brocks dunkelhäutigen, kahlrasierten Schädel spannte. Die beiden Männer zögerten, als Reichen sich zu ihnen umdrehte und sie ansah.

„Was ist los?“, fragte er die Krieger und hoffte, sie würden ihn nicht das Gleiche fragen.

„Wir fahren in ein paar Minuten nach Connecticut raus, Alter“, antwortete Brock mit donnernder Bassstimme, in der Kampfbereitschaft schwang. „Mit ein bisschen Glück packen wir Dragos bei den Eiern, noch bevor die Nacht rum ist.“

„Dragos“, echote Reichen. „Haben wir denn eine Spur zu ihm?“

„Die beste bisher“, sagte Kade. „Renata gibt Gideon eben die Koordinaten durch.“

„Wann sind die Frauen zurückgekommen?“

Brock schüttelte langsam den Kopf. „Sind sie gar nicht. Der Rover ist am Arsch, wir sammeln sie heute Abend ein, wenn wir dort sind.“

In Reichen blinkten sämtliche Alarmlampen auf.

„Was soll das heißen - sind sie mit dem Wagen liegen geblieben?“

„Gegen einen Baum gekracht“, sagte Kade. „Hätte viel schlimmer ausgehen können, wenn die Lakaien, die sie von der Straße abdrängen wollten, sie in die Finger gekriegt hätten. Aber sie sind alle okay, und die Lakaien sind tot. Renata hat ihnen eine kleine Bleivergiftung verpasst.“

„Himmel.“ Reichen gefror das Blut in den Adern.

Lakaien.

Ein Autounfall und eine Schießerei.

Claire...

„Hat Gideon die Frauen grade am Telefon?“, fragte er.

Kade nickte.

„Wo?“

„Im Techniklabor.“

Mit hämmerndem Herzen stürzte Reichen los. Er musste unbedingt Claires Stimme hören. Aus ihrem eigenen Mund hören, dass ihr nichts fehlte.

Gideon und die meisten anderen Ordensbrüder waren im Techniklabor versammelt und diskutierten die Karten und Koordinaten an der rückwärtigen Wand des Labors. Tegan, Nikolai, Rio und der ehemalige Gen-Eins-Killer Hunter waren allesamt gekleidet wie Kade und Brock, alle strotzten nur so vor Waffen und tödlicher Entschlossenheit.

Reichen betrat den Raum und ging schnurstracks zu Gideon, gerade noch rechtzeitig, um zu hören, wie sich der Krieger von Renata verabschiedete und auflegte. „Ich muss mit Claire reden.“

„Sie ist okay“, sagte Gideon. „Die Situation ist völlig unter Kontrolle.“

„Einen Scheiß ist sie“, brüllte er, zitterte förmlich vor Sorge. „Sie sind von Lakaien angegriffen worden und stecken jetzt da draußen fest? Was zum Teufel ist passiert?“

„Wir wussten, dass die Mission nicht ungefährlich sein würde“, sagte Lucan sachlich. Als Reichen sich zu ihm umwandte, fuhr der Anführer des Ordens fort: „Die Frauen kannten die Risiken ebenfalls. Sie haben sie akzeptiert und sind damit fertig geworden.

Ziemlich gut sogar.“

Reichen beruhigte sich ein wenig, aber nicht viel.

„Erzählt mir, was passiert ist.“

Gideon gab ihm eine Kurzzusammenfassung von Renatas Bericht: Dass Claire davon überzeugt war, dass sie nur wenige Meilen von Roth entfernt waren; dass sie zweimal die Lakaien gesichtet hatten, die ihnen offenbar schon seit dem frühen Nachmittag gefolgt waren; dass es eine halsbrecherische Verfolgungs-Jagd gegeben hatte, die in einem unerschlossenen Waldstück etwa drei Stunden von Boston entfernt geendet hatte; und dann die erstaunliche Neuigkeit, dass Dylans übersinnliche Gabe die Frauen nicht nur in Sicherheit gebracht, sondern sie offenbar direkt zu Dragos' Versteck geführt hatte.

So erstaunt er über die außergewöhnlichen Ereignisse dieses Tages war - und so erleichtert, dass weder Claire noch die anderen beiden Frauen verletzt worden waren - , war ein anderer Teil von ihm verwirrt ... und voller Schuldgefühl.

Claire musste entsetzliche Angst gehabt haben, als sie und ihre Gefährtinnen von den Lakaien angegriffen worden waren. Zumindest musste ihr Adrenalinspiegel gestiegen sein, aber Reichens Blutsverbindung zu ihr hatte ihm nichts dergleichen signalisiert.

„Hast du es nicht gewusst?“, fragte Tegan und sein Blick schien mitten in ihn hineinzusehen.

Reichen schüttelte kurz den Kopf. Als Claire sich in ernster Gefahr befunden hatte, war er außer Gefecht gesetzt gewesen. Die Erkenntnis, wie sehr er sie im Stich gelassen haben könnte, traf ihn wie ein Hieb.

Und jetzt war sie dort draußen, schutzlos und Roth so nahe, dass sie ihn fühlen konnte. Und möglicherweise auch in Dragos' Reichweite.

Bei diesem Gedanken wurde Reichen wütend.

Schon spürte er das erste Knistern von Feuer, das in seinen Eingeweiden aufzulodern begann, während der Orden wieder zu seiner Besprechung der nächtlichen Operation zurückkehrte. Er kämpfte das Feuer nieder, indem er seine gesamte Konzentration auf Claire richtete, und hörte sich den Plan der Krieger an. Sie hatten vor, nach dem Waldstück zu suchen, das die Frauen durchgegeben hatten, und Dragos' Einsatzzentrale zu lokalisieren, die sich offenbar dort befand. Durch die Information, die Claires Blutsverbindung ihnen gegeben hatte, waren sie zuversichtlich, Roth zu finden. Aber ihr wichtigstes Ziel blieb, Dragos selbst zu orten, den Schweinehund aus seinem Versteck zu jagen und dem Orden in die Arme zu treiben.

Die Krieger begannen sich nun zu zerstreuen. Die in Kampfanzügen steuerten den Korridor an, während Lucan, Dante und Gideon die Mission vom Hauptquartier aus überwachen würden. Als Reichen Anstalten machte, sich Tegan und den anderen auf ihrem Weg auf den Korridor anzuschließen, hielt Lucan ihn mit einem Blick auf.

„Das ist ein Einsatz des Ordens, wir können uns keine Schwachstellen leisten.“ Als Reichen missbilligend die Stirn runzelte, fuhr er fort: „Hör mal, du warst bis jetzt ein verdammt guter Verbündeter, Reichen, aber Tegan hat mich über ein paar Dinge informiert - was du mit deiner Pyrokinese und ihren Nachwirkungen durchmachst. Ich habe auch von der Vision erfahren, die Roths Stammesgefährtin in Miras Augen gesehen hat. Damit ist nicht zu spaßen, und gerade jetzt können wir uns keinerlei Anfälligkeiten leisten.“

Reichen hielt dem scharfen Blick der grauen Augen des Ordensführers stand. „Ich bin mit ihr verbunden, Lucan. Ich liebe sie. Wenn du mich da raushalten willst, musst du mich töten. Hier und jetzt.“

Schweigen senkte sich über das Labor und die Gruppe der Krieger, die um sie herumstanden.

„Ich habe dem Orden meine volle Unterstützung zugesichert“, sagte Reichen. „Das ist mich teuer zu stehen gekommen, aber damit werde ich fertig. Jetzt bitte ich dich nur um eins: Ich will Roth tot sehen. Das will ich, und der Orden auch. Lasst mich diesen Scheißkerl umlegen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“

„Und wenn es das Letzte ist, das du tust?“, bedrängte ihn Lucan.

Reichen schüttelte langsam den Kopf und spürte Entschlossenheit in seinen Adern aufflackern, viel stärker als selbst bei seinen schlimmsten pyrokinetischen Anfällen. „Ich habe nicht vor, diesen Kampf zu verlieren, Lucan. Ich habe auch nicht vor, Claire zu verlieren.“

Der Gen-Eins-Vampir starrte ihn eine ganze Weile lang an, seine grauen Augen maßen ihn prüfend. „In Ordnung“, sagte er schließlich. „Zieh dich um und dann in Gottes Namen raus mit dir. Viel Glück, Reichen. Ich habe das Gefühl, du kannst es brauchen.“

Der letzte Sonnenstrahl versank hinter der Baumreihe im Westen, als Claire, Renata und Dylan den Range Rover beim Fluss zurückließen und sich über den staubigen Weg Richtung Straße aufmachten. Sie hatten alles halbwegs Wichtige aus dem liegen gebliebenen Geländewagen mitgenommen - Karten, Notizen, Waffen und Munition - und wollten nun Position unweit der Hauptstraße beziehen, wie die Krieger es Renata aufgetragen hatten, als sie ihnen telefonisch ihre Lage durchgegeben hatte.

Während sie in der zunehmenden Dämmerung den schmalen Weg entlanggingen, konnte Claire nicht umhin, immer wieder über die Schulter zu schauen oder bei jedem überraschenden Geräusch zusammenzuzucken, das aus dem allmählich dunkler werdenden Wald rechts und links von ihnen drang.

Der Tag war schon beunruhigend genug gewesen, aber es war das Summen in ihren Venen - die schreckliche Gewissheit, dass Wilhelm Roth ganz in der Nähe war, die ihre Haut und ihre Sinne bis zum Zerreißen anspannte.

Immer wieder dachte sie an ihren Traumspaziergang zu Roth und schauderte, wie er vor Wut geschäumt und geschworen hatte, sie und Andreas leiden zu lassen. Und sie erinnerte sich allzu lebhaft an die vielen Frauen, die in Dragos' Käfigen eingesperrt waren - Gefängniszellen, die vielleicht nicht weit entfernt von der Stelle lagen, an der sie und ihre beiden Gefährtinnen vor Kurzem gestanden hatten. Der Gedanke daran, welche Gräuel diese Stammesgefährtinnen durchgemacht haben mussten, machte sie ganz krank. Gräuel, die der Gruppe von Geistern zufolge, die sich Dylan in diesen abgelegenen Wäldern gezeigt hatte, für viele von ihnen im Tod geendet hatten.

Dragos musste unbedingt gestoppt werden. Genau wie Wilhelm Roth und einige andere Mitglieder des Stamms, die den Terror und die Folter billigten, die sie in Roths Traum gesehen hatte.

Claire wusste, dass Männer wie sie beseitigt werden mussten, aber deshalb ängstigte sie sich nicht weniger um diejenigen, die sich ihre Vernichtung zur Lebensaufgabe gemacht hatten. Und um Andreas und die grauenvolle Vision von Feuer und Tod, von der sie inständig hoffte, dass sie sich nie erfüllen würde.

Während sie und ihre beiden Gefährtinnen einen Unterschlupf suchten, um dort auf die Krieger zu warten, konnte Claire nicht umhin zu denken, dass die Nacht, die vor ihr lag, möglicherweise erst der Anfang einer noch größeren Dunkelheit sein würde.

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